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Ein neuer Ort


Positiv überrascht

Ich bin Experte für Krankenhausflure. Kenne ihren Geruch, ihre Farbe – wenn man das Farbe nennen will – kenne ihren Klang, kenne die Wartebänke in den Wartebereichen vor den Arztzimmern, kenne die gesenkten Köpfe der Mitarbeiter, wenn sie, um Blickkontakt zu vermeiden, vorbeihasten. Manchmal denke ich, sie machen das aus schlechtem Gewissen, weil ich wieder länger warten muss, als angekündigt. Manchmal denke ich, sie sehen mich gar nicht, ich bin schon unsichtbar, nicht mehr da. Ich kann am Klang erkennen, ob es die Röntgenabteilung, die stationäre Aufnahme oder der Gang zur chirurgischen Ambulanz ist. Wohlfühlorte sind das nicht.

Als ich in meinem Bett auf die Palliativstation geschoben werde, meine hektisch gepackte Tasche auf dem Bett, die Deckenbeleuchtung vorüberziehend wie Bahngleise, habe ich keine bestimmte Erwartung, an diesen für mich neuen Ort.

Als die Tür aufgeht, höre ich Stimmen, ein Pfleger tritt in mein Blickfeld, lächelt mich an und begrüßt mich mit meinem Namen. Er sagt mir, dass er sich um mich kümmern werde, ob es mir im Moment gut gehe oder ob ich etwas bräuchte.

Neben dem Empfangstresen der Station in einer kleinen Sitzgruppe wartet meine Familie. Sie treten zu mir ans Bett heran. Sie hatten hier auf mich gewartet, zwei Tassen mit Kaffee auf dem Tisch.

Dieser Empfang macht mich vorsichtig neugierig. Geübt darin, mich zu arrangieren mit den unvermeidlichen Sachzwängen eines Krankenhausaufenthaltes und aus Selbstschutz abgestumpft, spüre ich plötzlich, wie ausgehungert ich bin nach Geborgenheit.

Hier herrscht Gelassenheit. Keiner hat vor mir und meiner Geschichte und meiner Situation Angst. Ich denke, die wissen sehr genau, was sie tun. 

Verzagt lebenshungrig

Welche Erwartung darf man an eine Palliativstation haben? Ich habe in Dreibettzimmern Nächte durchwacht, weil der Mensch links neben mir wimmerte und der rechts im Schlaf sprach. Ich habe Abführmaßnahmen von Mitpatienten ertragen, habe nach der Pflege geklingelt, wenn andere es nicht selbst konnten, habe verstörende Gespräche von Ärzten mit Familien gehört, habe ungewollt Diagnosen anderer erfahren, habe Erleichterung, Wut, Trauer und Schmerz wechselweise als stetige Begleiter in den Betten an meiner Seite gehabt – fast so bunt, turbulent und ungeordnet wie in mir selbst.

Ich erhoffe mir Ruhe. Ich bin krankenhausmüde. Ich bin krankheitsmüde. Ich bin dieses Lebens müde, nicht lebensmüde. Ich bin sehnsüchtig und verzagt lebenshungrig. Sie waren sehr ehrlich zu mir, wie ich es mir gewünscht habe. Nur jetzt weiß ich nicht mehr, was noch zu wünschen lohnt. Zukunft ist eine Frage der Qualität nicht der Quantität, keine Zeitgutschrift. Ich bin ratlos. Dürfen täte ich gerne, aber müssen habe ich mich nicht trauen wollen. Das wirkt beruhigend. Das mitleidige Getuschel und die feuchten Blicke an manch anderem Ort sind nicht dazu angetan, sich in kompetenter Behandlung zu wähnen.

Mein Zimmer ist erstaunlich geräumig. Licht. Luft. Holz. Ein anderer Duft. Möbel. Bilder. Es bietet Platz. Ich komme an einen Ort, der nicht mich bestimmt, sondern den ich beleben darf. Ich muss nicht funktionieren, hier darf ich mich ausprobieren. Dürfen will ich gerne wollen.

Der Pfleger erklärt mir die technische Ausstattung und hilft mir mich einzurichten. Genauso fühlt es sich an. Nicht meine Sachen werden aufgeräumt, sondern ich richte mich ein. Meine Familie hilft mit.

Das Leben vor dem Ende

Natürlich sind wir traurig. Wir wissen, dass dieser Ort auch für Abschied steht. Ob es der Ort ist, an dem wir voneinander fortgehen oder ob sich nochmal eine Perspektive für eine Zeit außerhalb des Krankenhauses ergibt, wissen wir nicht. Aber wenn, dann entsteht diese Perspektive durch und an diesem Ort. Denn dieser Raum steht vor allem für das Leben. Das Leben vor dem Ende. Und das soll bitte gut sein.

Meine Familie. Sie haben mich oft und immer besucht, wenn es ging. Wir saßen auf Gängen, vor Krankenhauskiosken und zusammengepfercht in den Dreibettzimmern. Wir haben dort geweint, gebangt, gehofft, gebetet. Hier spüre ich sie entspannen. Wir haben einen geschützten Raum für uns. Krankenhäuser sind keine Hotels, werden es nie sein. Müssen es auch nicht sein. Aber: Privatsphäre zu wahren ist kein Luxus, sondern Menschenrecht. Raum für emotionale Begegnung ist kein Wellnessprodukt, sondern Lebenssinn. Hier ist ein Ort, der das gewährt.

Die Mitarbeiter stellen sich vor, besprechen Pläne und Ideen, fragen viel mehr, als sie erklären. Medizinisch ist alles da, der Sauerstoff aus der Wand, die unverzichtbare Schmerzpumpe, die Krankengymnastik. Ich bin überrascht, wieviel Medizin hier gedacht wird, hatte etwas Sorge, dass hier weniger nach Ursachen geforscht wird – was ich erlebe ist das Gegenteil. Mit großer Sorgfalt und dem ganzen gut abgestimmten Team wird mit mir und für mich gearbeitet. Ich habe Zutrauen, dass meine Schmerzen hier beherrschbar bleiben. Das erlaubt mir, den Kopf für anderes zu öffnen.

Einfach nur draußen sein

Ich werde eingeladen, die Station zu erkunden. Sie fahren mich im Rollstuhl in ein Wohnzimmer, an dessen Ende sich eine Terrasse befindet. Ich erwarte morgen den Besuch eines alten Freundes, der mich lange Jahre nicht gesehen hat – wie schön, ihn nicht im Bett empfangen zu müssen. Wir werden hier sitzen, am Tisch und reden und Tee trinken. Kein Krankenbesuch, sondern eine Begegnung. Ich verspüre Vorfreude. Ich bin (noch) lebendig.

Auf der Terrasse nehme ich einen tiefen Atemzug. Seit Wochen bin ich nicht mehr einfach nur draußen gewesen, habe den Wind nicht im Haar gespürt oder die Sonne auf der Haut. Sie haben mich auf der Trage die Treppe heruntergetragen, als der Krankenwagen kam, und direkt vor dem Haus eingeladen. Hier kann ich im Wind verweilen. Ich wünsche mir Regen. Ich spüre wie ich ruhiger atme, obwohl das in den letzten Tagen kaum gelang. Meine Tochter lächelt. Als ich frage, warum sie lächelt, sagt sie: Weil Du es tust. War mir nicht aufgefallen.

Ich liege viel wach, bin trotzdem müde. Ich bin Experte für Krankenhausflure. Habe ein ganz neues Bild dazu gewonnen. Ja, ich bin krankenhausmüde. Ja, ich bin krankheitsmüde. Aber vor allem: Ich bin lebendig.

Der Nachtdienst klopft und tritt vorsichtig ein …

Ich bin in meinem Zimmer. Nicht in einem Zimmer. In meinem Zimmer. Ich habe Fotos meiner Lieben an der Wand. Ich habe Vertrauen in diesen Ort. In diesen Raum. Die Dunkelheit verliert hier ihren Schrecken.